Erwerbsarmut
Der Armutsbegriff ist schon lange nicht mehr nur ein Terminus, Armut, sondern differenziert inzwischen in verschiedene Facetten. Armut allgemein, die alteingesessene Definition, Altersarmut, nicht neu, aber auch noch nicht so alt, relative Armut und Erwerbsarmut.
Genau genommen hat der Begriff „Erwerbsarmut“ etwas Perfides an sich. Menschen gehen einer Erwerbstätigkeit nach und fallen mit ihrem erarbeiteten Einkommen dennoch unter die Armutsgrenze. Kein Wunder, dass dieser Sachverhalt das Klischee des Hartz-IV Empfängers befeuert, der da sagt „warum soll ich arbeiten gehen, wenn ich durch Nichtstun mehr bekomme?“.
Was ist Erwerbsarmut, wie kann man sie bekämpfen und was bedeutet relative Armut? Diesen Fragen wollen wir in diesem Ratgeber nachgehen.
Inhaltsverzeichnis
Erwerbsarmut – die Definition
Man sollte denken, dass in Zeiten der Vollbeschäftigung, wie sie die Bundesrepublik seit einiger Zeit wieder aufweist, die Anzahl der „working poor“, der berufstätigen Armen, rückläufig ist. Die Hans-Böckler-Stiftung hat ermittelt, dass das Gegenteil der Fall ist. In der Zeit zwischen 2004 und 2014 hat sich die Zahl der Erwerbsarmen in der Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen in Deutschland schlicht verdoppelt. (1)
Die Frage ist, wie kommt das? Die Antwort fällt einfach aus. Eine boomende Wirtschaft entwickelt sich nicht nur durch hochbezahlte Jobs, sondern benötigt in großem Umfang auch schlechtbezahlte Handlangertätigkeiten. Arbeitslose Menschen, auch besser qualifiziert, geraten unter den Druck, Jobs im Niedriglohnsegment annehmen zu müssen. Aufgrund der Alterstreppen in Tarifverträgen sind sie bei längerer Arbeitslosigkeit in ihrem alten Beruf zu teuer, hier werden Jüngere eingestellt. Was bleibt, sind Tätigkeiten auf Mindestlohnbasis.
Bei genauerer Betrachtung war die Sache mit dem Mindestlohn zwar gut gedacht, aber schlecht gemacht. Warum? Ein Mindestlohn sollte dem Arbeitnehmer ein Leben ohne zusätzliche Unterstützung durch öffentliche Gelder ermöglichen.
Der Mindestlohn im Jahr 2018 beträgt 8,84 Euro in Deutschland. Bei einer 40-Stunden-Woche bedeutet dies ein Brutto-Einkommen von 1.414,40 Euro. Damit hat eine alleinerziehende Mutter eines Kindes bereits den Anspruch auf eine Aufstockung durch Hartz-IV. Die Grenze liegt bei 1.500 Euro im Monat.
Kurz zusammengefasst: Erwerbsarmut liegt vor, wenn das Einkommen eines Arbeitnehmers unter der definierten Armutsgrenze liegt. Der Schwellenwert für Alleinstehende lag im Jahr 2017 bei 1.064 Euro. (2) Das Nettoeinkommen eines Singles mit Mindestlohn 1.062,95 Euro, ohne Kirchensteuerpflicht.
Das Spiel lässt sich beliebig weiter fortführen. Zwei Arbeitnehmer im Mindestlohnsektor tätig, mit zwei Kindern unter 14 Jahren, verfügen über ein monatliches Nettoeinkommen von 2.132,96 Euro (Steuerklasse IV /IV). Die Armutsgrenze für diese familiäre Konstellation liegt bei 2.234 Euro monatlich.
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Erwerbsarmut – ein Widerspruch in sich?
Wissenschaftliche Definitionen sind das eine, der umgangssprachliche Gebrauch eines Wortes in der Bevölkerung das andere. Jeder von uns kennt seit seiner frühen Kindheit den Begriff „Armut“ in Bezug auf wirtschaftliche Not. Der alte Mann, der bei den Großeltern um die Ecke wohnte und tagein, tagaus mit der selben geflickten Hose auf die Straße trat, Fernsehbilder von „bag-people“ in den USA, die mit ihrer Habe in einer Bushaltestelle wohnen, Menschen, die hierzulande die Mülleimer am Straßenrand auf der Suche nach Verwertbarem umdrehen. Das ist in der Breite die Assoziation mit Armut.
Neu ist, dass Menschen morgens um sechs ihre Wohnung verlassen, abends um acht Uhr nach Hause kommen, einer Berufstätigkeit nachgehen, ebenfalls „arm“ im Sinne der offiziellen Definition sind.
Auch wenn der Spiegel (3) schreibt, dass nicht alle Minijobber den Zweitjob aus finanzieller Not ausüben, ist es doch mehr als die Hälfte, neben einer hauptberuflichen Tätigkeit ihr Einkommen durch einen Zweitjob aufbessern muss. Immerhin 2,7 Millionen Menschen gehen einer Zweittätigkeit nach.
Welche Lösung bietet sich an?
Zunächst einmal wäre es ein Ansatz, die Ausbildung bereits in den Schulen auf breitere Sockel zu stellen und von Beginn an höhere Qualifikationen zu ermöglichen. Die Krux daran ist nur, eine Volkswirtschaft benötigt nicht nur Ingenieure, Investmentbanker oder Ärzte. Das ist kein Zynismus, sondern ein Faktum. Es bedarf auch der Menschen, die bei Ikea die Lagerhallen auffüllen, eine Tätigkeit, die kein Hochschulstudium voraussetzt.
Es bliebe also der Ansatz, den gesetzlichen Mindestlohn auf ein Niveau heraufzusetzen, welches deutlich über der definierten Armutsgrenze liegt. Dies wirft allerdings wiederum die Frage auf, wie viele kleine und mittelständische Unternehmen dies bewerkstelligen können. Auch wenn von einigen Gruppierungen gerne so gesehen, fährt nicht jeder Arbeitgeber auf Kosten seiner Belegschaft mit dem Mercedes vier Wochen in das Fünf-Sterne-Hotel in Davos.
Steigende Lohn- und damit einhergehende Lohnnebenkosten lassen sich auch nur begrenzt an die Abnehmer der Waren und Dienstleistungen weitergeben.
Damit wären wir bei dem bedingungslosen Grundeinkommen, welches von vielen gefordert wird. Staatliche Intervention und öffentliche Gelder als letzte Rettung? An dieser Stelle sei auf das Gehaltsgefüge in einigen Bereichen im öffentlichen Dienst, Krankenpflege, Erzieher im Kindergarten, Polizei und Feuerwehr verwiesen. Die folgende Übersicht zeigt, dass die Gehälter in der Krankenpflege alles andere als „prall“ sind und die breite Masse der Mitarbeiter im unteren Segment angesiedelt ist. Es kann nicht jeder als Oberpflegerin agieren:
Träger der Einrichtung | Gehalt von | Gehalt bis |
---|---|---|
Staatliche Einrichtung | 2.300 € | 3.200 € |
Kirchliche Verbände und Einrichtungen | 2.300 € | 2.800 € |
Privatisierte Unternehmen | 1.800 € | 2.200 € |
Quelle: Praktischarzt.de |
Die Antwort auf die Frage, wie kann man Erwerbsarmut bekämpfen, würde eine der großen sozialpolitischen Herausforderungen hierzulande mit einem Schlag lösen. Leider kennt niemand eine Antwort, die allen gerecht wird.
Und dann wäre da noch die relative Armut
Viele Leser werden sich jetzt fragen, was bedeutet „relative Armut“? Nicht genug Geld heißt nicht genug Geld, da gibt es nichts zu relativieren.
Sozialpolitiker und Wissenschaftler sehen dies anders. Während die absolute Armut in Zahlen festgeschrieben ist, wird relative Armut an anderen Faktoren gemessen. Sie setzt das Einkommen der jeweiligen Person in Relation zum Wohlstand in seinem persönlichen Umfeld, sprich, der Straße, in der er wohnt, im Verein oder am Arbeitsplatz. Wer in Berlin-Marzahn mit 50.000 Euro im Jahr nach Hause kommt, gilt als relativ gut verdienend. In Starnberg, der einkommensstärksten Gemeinde Deutschlands, wäre er damit ein Almosenempfänger.
Wer in absoluten Zahlen als arm gilt, hat ein Problem. Wer in relativer Armut lebt, kann umziehen. Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht.
Relative Armut definiert sich durch das Delta des einzelnen zum Standardeinkommen einer untersuchten Personengruppe. Je kleiner die untersuchte Gruppe ausfällt, um so größer werden die möglichen Unterschiede. Bezogen auf eine Volkswirtschaft gilt das durchschnittliche Einkommen der Gesamtbevölkerung als Median. Die relative Armut wird jetzt in Prozent der Abweichung vom Medianeinkommen gemessen, beispielsweise 50 oder 60 Prozent davon.
Im Zusammenhang mit der Theorie der relativen Armut greifen in Deutschland drei Größen:
- Es gilt eine „strenge“ Armut, wenn das Einkommen 40 Prozent des Medianeinkommens beträgt.
- Die eigentliche Armutsgrenze ist mit 50 Prozent des Medianeinkommens definiert.
- Von einer „weichen“ Armut ist die Rede, wenn das Einkommen nicht mehr als 60 Prozent des Mittelwertes erreicht.
Die Armutsgrenze in Deutschland lag im Jahr 2015 für eine alleinstehende Person bei 11.749 Euro im Jahr, für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 24.673 Euro im Jahr. (4)
Im selben Jahr lag das mittlere Einkommen für einen Einpersonenhaushalt bei 19.380 Euro, für eine vierköpfige Familie bei 40.704 Euro. Bemerkenswert ist der Anstieg in der Zeit seit 2005.
Quelle: https://www.boeckler.de/wsi_50933.htm
Kritik am Begriff der relativen Armut
Der Begriff der relativen Armut ist dehnbar. Die Veränderung der Größen fällt bei unterschiedlichen Szenarien unterschiedlich aus.
Verdienen in einer Gesellschaft nur diejenigen, die als reich gelten, im Erhebungszeitraum mehr, ändert sich für das Gros der Gesellschaft nichts – es bleibt alles beim alten, lediglich die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer.
Einkommensgruppe | Zuwachs |
---|---|
> 100.000 | 10% |
70.000 – 99.999 | 10% |
50.000 – 69.999 | 10% |
30.000 – 49.999 | 0% |
0 -29.9999 | 0% |
Medianeinkommen: 50.000 Euro |
Verdienen in einer Gesellschaft alle im Erhebungszeitraum zehn Prozent mehr, verändert sich auch nichts, die Abstände bleiben identisch.
Einkommensgruppe | Zuwachs |
---|---|
> 100.000 | 10% |
70.000 – 99.999 | 10% |
50.000 – 69.999 | 10% |
30.000 – 49.999 | 10% |
0 -29.9999 | 10% |
Verschiebung des Medianeinkommens auf 55.000 Euro |
Ein Ansatz, die relative Armut zu bekämpfen, wäre, alle Gut- und Besserverdiener aus dem Land zu schicken. Das würde zwar die Steuereinnahmen dämpfen, aber zu einer Verschiebung des Medians nach unten führen, und damit die statistische Armutsgrenze – und damit auch die Zahl derer, die nach dieser Definition als arm gelten – absenken.
Vorher | |
---|---|
Einkommensgruppe | Prozentsatz an der Bevölkerung |
> 100.000 | 10% |
70.000 – 99.999 | 20% |
50.000 – 69.999 | 35% |
30.000 – 49.999 | 25% |
0 -29.9999 | 10% |
Medianeinkommen: 50.000 Euro |
Nachher | |
---|---|
Einkommensgruppe | Prozentsatz an der Bevölkerung |
> 100.000 | 0% |
70.000 – 99.999 | 0% |
50.000 – 69.999 | 50% |
30.000 – 49.999 | 35,71% |
0 -29.9999 | 14,28% |
Medianeinkommen sinkt auf 35.000 |
Sinkt das mittlere Einkommen von 50.000 auf 35.000 Euro, sinkt parallel auch die statistische Armutsgrenze (wie erinnern uns: sie wird als 60 Prozent des Medianeinkommen festgesetzt). Da in unserem Beispiel die Gutverdiener das Land freiwillig oder unfreiwillig verlassen haben, sinkt mit dem Medianeinkommen auch die Armutsgrenze – in unserem Beispiel von 30.000 auf 21.000 Euro.
Da die Einkommen für jeden Einzelnen gleichgeblieben sind, muss die Anzahl derer sinken, die statistisch als arm gelten. Die Anzahl derer, die als arm gelten, ist also gesunken – auf dem Papier zumindest. In der Praxis hat sich nichts verändert: wer vorher kaum über die Runden kam, kommt jetzt auch kaum über die Runden.
Die Zahlen sind rein willkürlich gewählt und dienen nur der Veranschaulichung. Sie sind nicht mathematisch überprüft.
Fazit
Abgesehen von den theoretischen Betrachtungen zur relativen Armut hat Deutschland ein Problem. Zu viele Menschen sind trotz einer blühenden Konjunktur der letzten Jahre von Armut bedroht oder gelten als arm. Eine regelmäßige Berufstätigkeit bietet keinen Schutz, solange ein Nettoeinkommen aus dem Mindestlohn eine Aufstockung durch Hartz-IV notwendig macht.
Weiterführende Informationen
- Verdoppelung der „working poor“ – Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung
- Schwellenwert der Armutsgrenze 2017
- Die Verteilung bei 450-Euro-Jobs – Anteil der Zweitjobs
- Armutsgrenzen in Deutschland im Jahr 2015